Ausstellungen 2004
Timm Ulrichs
»Ich, immer ich«
Selbstporträts und Selbstdarstellungen
21. November 2004 bis 20. Februar 2005
Einführung durch Michael Stoeber und Timm Ulrichs. Gespräch mit Timm Ulrichs am Dienstag, 18. Januar 2005.
Eine Ausstellung, die Timm Ulrichs’ Werkstrang „Totalfilmkartei“ vorstellt.
Die Filme:
Reise zum Mittelpunkt des Ichs 1995/97. Durchsicht: durchs Ich. /
Eine endoskopische Reise 1971/2004. /
Stirn und Gestirne 1986/91/2003. /
Meta-Atem. Über Inspiration und Expiration 1976/99. /
Schuß und Gegenschuß. Eine Wegbeschreibung 1970/93.
/
Messerwurf-Porträt 1978/91. /
Olympische Marathon-Tretmühle 1972. /
The End 1966/70/81/90/97.
Timm Ulrichs, der seinen Körper in den Mittelpunkt seines Werks stellt, versteht das Auge als Nachbildung der Kamera. Durch die Augen wird (s)ein Leben von der Geburt an bis zum Tod ununterbrochen und lückenlos abgefilmt. Dauer des Films und Lebensdauer des Filmhelden sind identisch. „Ich“ ist für Timm Ulrichs Funktion, nicht Substanz.
In seinem 2. Egozentrischen Manifest (Erstpublikation: april 1966) heißt es unter I und II: ICH ALS KUNSTFIGUR oder: was das ganze theater soll
I kunst ist, was ich bin!
II meine lebensäußerungen = meine kunstäußerungen:
kunst sind meine ansichten: malerei
kunst sind meine körperformen: plastik
kunst sind meine bewegungen: tanz
kunst sind meine geräusche: musik
kunst sind meine worte: poesie
kunst ist mein leben: alles theater das reinste theater nichts als theater
(erstes lebendes kunstwerk / totalkunstbetrieb)
Mit dem 1940 in Berlin geborenen und in Hannover lebenden Timm Ulrichs stellt einer der wichtigsten deutschen Gegenwartskünstler in Neuenhaus aus. 1980 erhielt Timm Ulrichs den Kunstpreis der Stadt Nordhorn. Dort sind seit dieser Zeit die Arbeiten "Denkmal für Normal Null II" und der "Findling", das meistpublizierte Werk von Ulrichs, Teil des heutigen 'kunstwegen'.
"Timm Ulrichs gilt seit seinen spektakulären und extravaganten Auftritten und Anfängen in den 1960er Jahren als eine Art frühe "Ich-AG" in Sachen Kunst, als ein Ich-Künstler, der sich im konstruktiven oder auch im ironischen Sinne immer wieder als Maß aller Dinge in seine Künste einbringt oder zum Hauptdarsteller seiner Aktionen und Performances macht. Der studierte Architekt geht bei der Realisierung seines Werkes auch oftmals selbst wie ein Architekt vor: Idee und Planung kommen von ihm, die jeweilige Umsetzung delegiert er an Fachleute. Am eigentlichen Kunstwerk ist Ulrichs nicht die eigene Handschrift oder die Ausführung wichtig, sondern die Idee und der Wille zur Gestaltung.
Viele Ideen der präsentierten Filme gehen auf die 60er und 70er Jahre zurück - ihre Ausführung war jedoch manchmal erst durch die Entwicklung der filmischen Möglichkeiten und Mittel in der jüngsten Vergangenheit möglich. "Neugierig auf unvorhersehbare Einsichten und ungeahnte Erfahrungen am eigenen Leibe, bin ich häufig schon aufgebrochen zu Expeditionen ins eigene Ich, zu Abstiegen in die Untergründe und Bergwerke meiner selbst, mein Selbst", schreibt er zu seinen Arbeiten in Neuenhaus. Die Filme sind auf DVD gebrannt und werden über Fernseher gezeigt oder mittels Projektoren großflächig an die Galeriewände geworfen. Der Besucher trifft hier auf ein hochästhetisches Kino einer durchaus allgemein gültigen Selbstentdeckung und -befragung. ….
Mit der digitalen 3-D-Visualisierung "Reise zum Mittelpunkt des Ichs" (1995/97) wollte Ulrichs etwa zum tiefsten Punkt seines Kopfes vordringen. Ausgehend von einer kernspintomografischen Aufnahme wird das Abbild seines Kopfes im acht Minuten langen Schwarzweiß-Video durch Rotation Schicht um Schicht abgetragen und verkleinert, bis zum Schluss nur noch ein Kern bleibt - es entsteht der Eindruck einer Zeitreise, die assoziativ an eine stammesgeschichtliche Rückentwicklung des Menschen zu seinen Ursprüngen erinnert.
Der auf Video gezeigte Super-8-Film "Olympische Marathon-Tretmühle" entstand bereits 1972 zu den Spielen in München. Was heute als Drei-Minuten-Loop über die Mattscheibe flimmert, war für den Künstler damals schweißtreibende Schwerstarbeit: Auf der Stelle tretend absolvierte Ulrichs in einem großen Laufradkäfig täglich die Marathon-Distanz von 42 Kilometer. Der Kraftakt, der ganz bewusst an Goldhamster in ihren Laufrädern erinnern soll, führte nicht nur das Bemühen der Athleten ab absurdum, er stellte auch das Leben an sich als Sisyphusarbeit in Frage.
Werden und Vergehen, existenzielle Ursprünge und Prozesse, der Übergang vom Mikrokosmos Mensch zum Makrokosmos Universum verbildlicht Ulrichs mit dem beeindruckenden, vier Minuten langen Video "Stirn und Gestirne" (1986/91/2003). … Die bewegende Frage nach dem letzten Bild, das ein Mensch vor seinem Tod vor Augen hat, stellt Ulrichs in dem sechs Minuten langen Video "The End" (1966/70/81/90/97). Als Zielscheibe für einen Messerwerfer lässt er in dem Film "Messerwurf-Porträt" (1978/91) seinen Körper-Umriss an einer Wurfwand mit vielen Messern "nachzeichnen".
Der Science-Fiction-Film "Die phantastische Reise" hat Ulrichs zu seiner außergewöhnlichen endoskopischen "Durchsicht durchs Ich" inspiriert. Zu diesem "introspektiv-autobiografischen Film" verschluckte der Künstler eine verkapselte Mikrokamera, die ihren Weg durch den Verdauungskanal nahm und als Video dokumentiert. Bereits 1971 hatte Ulrichs die Idee dazu, realisiert wurde der 86 Minuten lange Farbfilm erst 2004. Das kapselendoskopische Verfahren, das in der Medizin zu diagnostischen Zwecken eingesetzt wird, gibt es erst seit einigen Jahren. …. Ulrichs meint dazu: "Je tiefer wir eindringen in uns selbst, je mehr versenken wir uns in unsere Physis und Psyche, umso abgründiger, bodenloser, unheimlicher und befremdlicher erscheinen wir uns selbst und wir erkennen, was wir sind: Fremdkörper." Weiterhin zu sehen sind die Filme "Schuß und Gegenschuß" von 1970/93 (eine ganz persönliche Wegbeschreibung vom Atelier an der Sodenstraße zum Sprengel-Museum am Kurt-Schwitters-Platz in Hannover) sowie "Meta Atem: Über Inspiration und Exspiration" von 1976/99. … "
(Auszüge aus: Thomas Kriegisch, Grafschafter Nachrichten, 23.11.2004)
Zur Ausstellung ist unter dem Titel "Timm Ulrichs - Ich, immer ich" eine Kassette mit acht Film- und Videowerken erschienen.
Die Ausstellung wurde gefördert durch das Land Niedersachsen, den Landkreis Grafschaft Bentheim, die Niedersächsische Lottostiftungung und die Stadt Neuenhaus.
Timm Ulrichs erhält am 23.01.2020 den Käthe-Kollwitz-Preis 2020.